Die Verleihung der Schweizer Wissenschaftspreise, die gemeinsam von der Marcel Benoist Stiftung und der Fondation Latsis organisiert wird, fand dieses Jahr im imposanten Nationalratssaal statt, einem symbolischen Rahmen für die Auszeichnung wissenschaftlicher Exzellenz. Dieser prestigeträchtige Ort war bereits Schauplatz der Verleihung des Marcel Benoist Preises durch die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss im Jahr 1995 anlässlich des 75. Jahrestages der Stiftung, während es für den Latsis Preis eine echte Premiere darstellte. Die vor fünf Jahren ins Leben gerufene Zusammenarbeit zwischen den beiden Stiftungen zeugt von einem gemeinsamen Engagement zur Förderung der wissenschaftlichen Spitzenforschung in der Schweiz und dem geteilten Willen, Forschende zu ehren, deren Arbeiten einen bedeutenden Beitrag zur Gesellschaft leisten.
In diesem Jahr wurden Pascal Gygax und Mackenzie Mathis geehrt, deren Arbeiten gesellschaftlichen Themen gewidmet sind und auf ausserordentlich grosse Resonanz stossen. Pascal Gygax, Marcel Benoist Preisträger, wurde für seine herausragende Forschungsarbeiten im Bereich der Psycholinguistik ausgezeichnet, die insbesondere Geschlechterungleichheiten in der Sprache aufzeigen. Mackenzie Mathis, Latsis Preisträgerin, zeichnete sich im Bereich der Verhaltensneurowissenschaften aus, einem schnell wachsenden Forschungsfeld, das die Funktionsweise des menschlichen Gehirns entschlüsseln will. Obwohl in ihrem Ansatz und ihrem Zweck unterschiedlich laufen diese Forschungsarbeiten auf ein gemeinsames Ziel hinaus: das Verständnis der grundlegenden Mechanismen zu verbessern, die unsere Wahrnehmung und unsere Interaktion mit der Welt bestimmen. Wie Bundesrat Guy Parmelin in seiner Rede betonte, «ist die Vielfalt der Persönlichkeiten und der Lebensläufe eine der Stärken des intellektuellen und industriellen Standorts Schweiz. Die Vielfalt ist im Übrigen ein fruchtbarer Boden für jeden von uns. So können wir voneinander lernen und uns gegenseitig durch unsere unterschiedlichen Denkweisen und Horizonte inspirieren».
Eine Zeremonie zur Auszeichnung der wissenschaftlichen Forschung
Der Anlass, der Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft vereinte, unterstrich die Bedeutung, die der Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung in verschiedenen Bereichen sowie den Forschenden selbst zukommt, deren Arbeiten nicht nur zur Erweiterung des Wissens, sondern auch zum sozialen und technologischen Fortschritt beiträgt. Die Wahl des Bundeshauses für die Durchführung der Zeremonie ist hier von besonderer Bedeutung, symbolisiert es doch die Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik, wie Nationalratspräsident Eric Nussbaumer in seiner Begrüssungsrede verdeutlichte: «Politische Entscheidungen, die wir hier im Parlament treffen, sollten auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Die Forscherinnen und Forscher liefern uns dafür die nötigen Informationen, Analysen und Modelle. Ohne diese Grundlagen wäre die Politik blind und nicht handlungsfähig in dieser immer komplexer werdenden und sich rasch verändernden Welt».
Das komplexe Zusammenspiel von Neuronen
Mathis, eine begeisterte Anhängerin des Pferdesports, war schon immer von den eleganten Bewegungen der Pferde fasziniert. So beschloss sie, sich mit den grundlegenden Fragen der Neurowissenschaften zu befassen, erklärt Anthony Holtmaat in seiner Laudatio zu Ehren der Latsis Preisträgerin 2024. Die Forscherin an der EPFL möchte verstehen, wie das Gehirn unser Verhalten steuert und sich an Umweltveränderungen anpasst, um diesen gezielt und effektiv zu begegnen. Dafür hat sie 2018 die Open-Source-Software DeepLabCut entwickelt, die «einen entscheidenden Durchbruch darstellt. Sie ermöglicht es Forscherinnen und Forschern, bei komplexen Bewegungsdetails – vom Gang eines Pferdes bis hin zu den winzigen Vibrationen der Schnurrhaare einer Maus – buchstäblich ‚die Punkte zu verbinden‘, und das mit einer nie dagewesenen Präzision.» Da sie ihr Wissen an zukünftige Generationen von Wissenschaftlern weitergeben und junge Talente fördern möchte, ist Mackenzie Mathis davon überzeugt, dass «wenn die Werkzeuge zur Beantwortung komplexer wissenschaftlicher Fragen nicht existieren, man nicht aufgeben, sondern sich der Herausforderung stellen und sie selbst entwickeln sollte» ‒ eine Philosophie, die sie «zu einem der besten Beispiele für die moderne Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gemacht hat, die nicht zögern, die neuesten digitalen Technologien mit modernsten Forschungsinstrumenten zu kombinieren, um bislang schwer zugängliche wissenschaftliche Themen zu untersuchen».
Sprache als Vektor für sozialen Wandel
«Die Arbeit von Pascal Gygax hat gezeigt, dass die Art und Weise, wie wir sprechen ‒ und zuhören ‒ oft ohne unser Wissen ‒ beeinflusst, wie wir die Welt sehen, wie wir Geschlecht und Identität wahrnehmen. Und damit auch die gesellschaftlichen Rollen mitbestimmt». So fasst Laura Bernardi, Vorsitzende des Evaluationskomitees des Marcel Benoist Preises 2024, die Bedeutung der Forschung des Psycholinguisten der Universität Freiburg zusammen. In ihrer Laudatio zu Ehren des Wissenschaftlers, dessen Werdegang «immer von einer immensen Faszination für die feinen Nuancen des menschlichen Verhaltens angetrieben wurde», hob sie auch das Talent von Pascal Gygax hervor, die Wissenschaft allgemein zugänglich zu machen, und sich immer wieder für eine geschlechtergerechtere Gesellschaft einzusetzen. Zum Beispiel durch die Förderung einer inklusiven Sprache, die zwar «die Strassen nicht sicherer machen wird», aber dazu beitragen kann, das Selbstvertrauen und die Erfolgswahrnehmung von Mädchen in bestimmten Berufen zu fördern, bei denen noch keine Gleichberechtigung herrscht. «Der Wissenschaftler versucht, auf inklusive Art zu bauen, indem er darauf achtet, dass die Sprache die Vielfalt der Gesellschaft, in der wir heute leben, widerspiegelt. Und das ein Wort, ein Satz, ein Gespräch nach dem anderen», fasst Laura Bernardi zusammen, «eine Inspirationsquelle für jede und jeden von uns».
Das Gehirn als Gemeinsamkeit
Nach der der Übergabe der Diplome und der Unterzeichnung des Goldenen Buchs der Marcel Benoist Stiftung war es an der Zeit für den Moderator Olivier Dessibourg, die beiden Wissenschaftler zu befragen, die eine Gemeinsamkeit aufweisen: das menschliche Gehirn als Studienobjekt. Begierig darauf, «über den Tellerrand hinauszuschauen» ‒ um die Worte Guy Parmelins in seiner Rede zu zitieren ‒ erkennen Mackenzie Mathis und Pascal Gygax eine gewisse Faulheit dieses Organs an, das versucht, so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen, sei es bei der Interpretation von Sprache oder bei der Steuerung unserer Bewegungen. Auf die Frage nach dem Potenzial und den Risiken der künstlichen Intelligenz wiesen die Preisträgerin und der Preisträger insbesondere auf die Komplexität des Gehirns ‒ und der Sprache ‒ hin, deren Performanz von computergestützten Modellen noch nicht erreicht worden sei. Sie weisen aber auch darauf hin, dass diese Modelle die in der Gesellschaft bestehenden Verzerrungen durch die ihnen zugrunde liegenden Daten reproduzieren könnten. Der letzte Punkt, der in der Diskussion angesprochen wurde, war die Frage, wie das Vertrauen in die Wissenschaft gestärkt werden kann. Nach Ansicht des Preisträgers ist es entscheidend, unsere Bildungskultur zu verändern, um zu verhindern, dass unsere Kinder sich zu früh für eine Richtung entscheiden müssen und ihnen dadurch breitere und bereichernde Perspektiven vorenthalten werden.
Austausch mit Jugendlichen
Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten die Gelegenheit, die Preisträgerin und den Preisträger der Schweizer Wissenschaftspreise 2024 sowie die Latsis Preisträgerin 2023, Lesya Shchutska, im Rahmen eines Workshops zu treffen, der von der Marcel Benoist Stiftung zusammen mit den Wissenschaftsolympiaden und Schweizer Jugend forscht sowie in Partnerschaft mit dem Verein Reatch organisiert wurde. Das Treffen, das einen Tag vor der Zeremonie stattfand, ermöglichte einen äusserst fruchtbaren informellen Austausch sowohl über wissenschaftliche Fragen als auch über akademische Laufbahnen und die Rolle der Wissenschaft in unserer Gesellschaft. Die Teilnehmenden, die auch zur Preisverleihung eingeladen waren, zeigten sich begeistert von den Gesprächen: «Es war eine einmalige Gelegenheit, exzellente Forschende zu treffen und mit ihnen quasi auf Augenhöhe zu sprechen. Nie hätten wir uns getraut, unseren Professorinnen und Professoren in einem Seminar an der Universität solche Fragen zu stellen», sagten zwei junge Studentinnen beim Apéro in der Galerie des Alpes, der auf die offizielle Zeremonie folgte.
Die Zeremonie wurde von dem Musikensemble Esprit Quartett umrahmt.
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(Copyright: Carmela Odoni)