Der Einfluss von Sprache kann anhand eines Experiments mit einem Geldstück erklärt werden. Geben Sie den Personen einer Gruppe je eine Münze und sagen Sie ihnen: «Hier, diese Münze ist für Sie.» Den Personen einer zweiten Gruppe geben Sie ebenfalls je eine Münze, dieses Mal aber mit den Worten: «Hier, diese kleine Münze ist für Sie.» Danach fragen Sie die Testpersonen, wie sehr sie sich gefreut haben. Das Ergebnis: Die Personen, welche die «kleine» Münze erhalten, geben in der Regel an, sich weniger gefreut zu haben als die anderen – auch wenn der Wert des Geldstücks in beiden Fällen genau gleich ist. Mit anderen Worten: Wenn das Wort «klein» hinzugefügt wird, ist die Freude weniger gross. So lässt sich ganz leicht demonstrieren, dass «unsere Art zu sprechen unsere Aufmerksamkeit auf Dinge lenkt, die nicht unbedingt relevant sind. […] Sprache hat Einfluss darauf, wie wir die Welt wahrnehmen, aber auch wie wir denken und wie wir uns verhalten», erklärt Pascal Gygax im Buch Le cerveau pense-t-il au masculin1 (Denkt das Gehirn männlich?), dessen Mitverfasser er ist.
«Sprache hat Einfluss darauf, wie wir die Welt wahrnehmen.»
Das Buch geht jedoch weit über die Wirkung dieses kleinen Geldgeschenks hinaus. Der in Biel (BE) geborene Psycholinguist Pascal Gygax interessiert sich leidenschaftlich für den Einfluss, den die geschlechtsspezifische Verwendung von Wörtern darauf hat, wie wir die Gesellschaft und ihre Codes wahrnehmen. Er untersucht, wie die stark männlich geprägte französische Sprache (Gleiches gilt für andere Sprachen wie beispielsweise dem Deutschen) zur Verfestigung von Positionen beiträgt, die es Männern ermöglicht, die Welt – einschliesslich der Frauen – zu beherrschen. Oft sind wir uns dessen gar nicht bewusst. Ein Beispiel gefällig? Nehmen wir den folgenden Satz: «Die Ärzte bitten ihre Studenten, sich die Hände zu waschen.» Dieser Satz vermittelt uns zunächst einmal ein Bild von Männern in weissen Kitteln, die von ihren männlichen Assistenten ein gewisses Mass an Hygiene verlangen. Doch die Formulierung wäre dieselbe, auch wenn die fragliche Gruppe von Ärzten eine oder mehrere Frauen umfasste und sich nur ein einzelner Student in einer ansonsten homogenen Gruppe von Studentinnen befände, zumindest im Französischen. Laut Pascal Gygax lässt sich diese Interpretation des sogenannten «generischen» Maskulinums zur Beschreibung aller Geschlechtsidentitäten durch die Funktionsweise unseres Gehirns erklären, wie mehrere neurowissenschaftliche Studien gezeigt haben.2
Diese Strukturierung des Gehirns reicht in die ersten Lebensjahre jedes Menschen zurück. Pascal Gygax beschäftigt sich seit gut zwanzig Jahren mit diesem Thema. Seine Arbeit hat den 49-jährigen Forscher zu einer Koryphäe auf seinem Gebiet gemacht und wird im Jahr 2024 mit dem Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist gewürdigt, der häufig als «Schweizer Nobelpreis» angesehen wird ‒ meilenweit entfernt von der Tenniskarriere und den Grand-Slam-Titeln, von denen er in jungen Jahren einst träumte.
«Ich war mir nicht sicher, ob ich Mathematik oder Psychologie studieren sollte», erinnert sich Pascal Gygax. «Mir wurde erklärt, dass ich mit Ersterem schneller Arbeit finden würde als mit Letzterem.» Also entschied er sich für die Mathematik – bis ein Erlebnis seine Pläne über den Haufen warf: «Auf dem Rückweg von einem Turnier mit dem Schweizer Rollstuhltennis-Team, das ich damals trainierte, vertraute mir einer der Spieler an, dass er lieber gestorben wäre als mit seiner Behinderung zu leben.» Von dieser Aussage aufgewühlt, beschloss Pascal Gygax, doch lieber Psychologie zu studieren. «Ich war Idealist, ich wollte die Welt retten, wollte Seelen retten», erinnert er sich. Doch die erste Ernüchterung kam bald: «In einem Gespräch erklärte mir der britische Professor und Psychotherapeut Paul Gilbert, was er tun würde, wenn eine stationär aufgenommene Person in seine Klinik käme und ihren Kopf gegen die Wand schlüge. Er sagte mir, auf der Grundlage seines psychologischen Fachwissens könne er ihr… nur einen Schutzhelm geben. Das hat mich endgültig überzeugt, dass ich nicht für die klinische Psychologie gemacht bin.» Pascal Gygax ging nach England, um Psychologie und Psycholinguistik zu studieren. Nach seiner Rückkehr im Jahr 2003 setzte er seine Forschung auf diesem Gebiet an der Universität Freiburg fort.
Spezialist für Emotionen
In seinen ersten Forschungsarbeiten beschäftigte er sich mit der Wahrnehmung von Emotionen. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass «Menschen keine sehr genaue Vorstellung von erlebten Emotionen haben, wenn sie an vergangene Ereignisse zurückdenken, da es ihr Gehirn zu sehr beanspruchen würde, sich daran zu erinnern». 2012 folgte eine wegweisende Studie3 über die begrenzte Wirkung von auf Zigarettenpackungen aufgedruckte Präventionsbotschaften auf Jugendliche. Die Kombination von Bildern, die durch Rauchen geschädigte Organe zeigen, und einfachen Formulierungen wie «Rauchen ist tödlich» funktioniert nicht. Die Arbeit untersuchte sogenannte Inferenzen, das heisst, sie analysierte Informationen, die aus einem Text oder Bild entnommen werden, ohne dass sie explizit formuliert sind – oder anders ausgedrückt: wie wir «zwischen den Zeilen lesen». «Diese Botschaften erreichen die Jugendlichen nicht», erklärt der Wissenschaftler und fährt fort: «Einerseits liegt das daran, dass sich diese Altersgruppe für unsterblich hält. Andererseits ist sie überzeugt, jederzeit mit dem Rauchen aufhören zu können. Hinzu kommen falsche Überzeugungen, etwa, dass Passivrauchen schädlicher sei als direkt inhalierter Rauch.»
Abgerundet wird die Bibliografie des Wissenschaftlers durch Studien4 darüber, wie Sprache unsere Wahrnehmungen der Zukunft beeinflusst. «Im Deutschen wird im täglichen Sprachgebrauch häufig das Präsens gewählt, um über Vorgänge in der Zukunft zu sprechen: ‹Ich sehe dich morgen.› Ein US-Forscher hatte die Hypothese aufgestellt, dass die Verwendung der Gegenwartsform der Grund dafür sei, dass die Menschen in Deutschland eher bereit sind, Geld zu sparen. Warum? Weil durch Aussagen über die Zukunft in der Gegenwartsform die Zukunft – und damit die Pensionierung – näher rückt. Wir haben diese Idee experimentell getestet.»
«Unser Gehirn ist gewissermassen so eingestellt, dass es sich Männer vorstellt, wenn es ‹Musiker› liest.»
Doch das Thema, das Pascal Gygax während zwei Jahrzehnten Forschung am meisten beschäftigt hat, ist die Wirkung einer ultra-maskulinisierten Sprache auf unsere Wahrnehmung der Welt und damit auf die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Seine ersten Ergebnisse, die er 2008 veröffentlicht5 und seither mehrfach reproduziert hat, haben ihn bekannt gemacht: «Aus den Studien geht hervor, dass wir beim Lesen eines männlichen Begriffs eher an Männer denken, das heisst im ‹konkreten› Sinn des Wortes (maskulin = Mann), auch wenn sich der männliche Begriff theoretisch als ‹generisch› interpretieren lässt. Dies gilt auch dann, wenn der Begriff zur Beschreibung einer Gruppe – wie im obigen Beispiel mit den Ärzten – verwendet wird, in der sich auch Frauen befinden können.» Die folgenden beiden Sätze veranschaulichen diesen Unterschied: «Die Musiker kamen aus der Cafeteria. Wegen des Unwetters hatte eine Frau einen Schirm dabei.» Laut Pascal Gygax «passt der zweite Satz in der Wahrnehmung unseres Gehirns nicht zum ersten, weil das Wort Frau nicht automatisch mit ‹Musikern› – ein Maskulinum – assoziiert wird, auch wenn dieses theoretisch als generische Form verstanden werden kann.» Woran das liegt? «Unser Gehirn ist gewissermassen so eingestellt, dass es sich Männer vorstellt, wenn es ‹Musiker› liest. Auf diese Weise verbraucht das Gehirn möglichst wenig Energie, wenn es innerhalb weniger Zehntelsekunden entscheiden muss, wie das Gelesene interpretiert werden soll.» Um sich eine Frau in der Gruppe der Musiker vorzustellen, muss das Gehirn mehr Energie aufwenden, wie einige aktuelle Studien zur Messung der elektrischen Aktivität im Gehirn belegen.
Die Metapher der Lichterkette
Zum besseren Verständnis dieses Konzepts vergleicht Pascal Gygax die Nervenzellen in unserem Gehirn gerne mit Glühbirnen in einer Lichterkette. Der Schaltkreis für «spezifisch männlich» ist dabei immer auf Standby und aktiviert sich daher schnell, selbst wenn eigentlich das generische Maskulinum gemeint ist. Deutlich aufwendiger ist umgekehrt das Einschalten einer Lichterkette, die ein durch ein generisches Maskulinum mitgemeintes weibliches Element enthält. Denn zunächst muss der erste «spezifisch maskuline» Schaltkreis ausgeschaltet werden, damit der «generische» eingeschaltet werden kann. Letztendlich lässt sich nach Pascal Gygax die Idee, dass die männliche Form einen neutralen Wert annehmen könnte, nicht mit der Funktionsweise unseres Gehirns vereinbaren. Er war auch daran beteiligt aufzuzeigen, dass dieses «Schaltmuster» im Gehirn bereits in frühester Kindheit geprägt wird, nämlich im Alter zwischen drei und fünf Jahren. Während der ersten Schuljahre verfestigt es sich dann: «Die Regel ‹maskulin = Mann› wird formell viel früher erklärt als die Tatsache, dass das Maskulinum auch eine generische Form annehmen kann», so der Wissenschaftler.
Hinzu kommen weitere sprachliche Formulierungen, welche die Dominanz des Männlichen gegenüber dem Weiblichen verstärken. Bei einer Aufzählung beispielsweise wird der Mann häufig zuerst genannt, wie etwa in der Formulierung «Mann und Frau» oder «Adam und Eva». Eine Ausnahme bildet «Meine Damen und Herren», ein Überbleibsel einer wohlwollenden Galanterie, die gemäss Pascal Gygax eher leicht spöttisch gemeint war als höflich. Im Französischen wird einer Gruppe aus Männern und Frauen zudem im Verb eine männliche Partizipform zugeordnet: «les étudiantes et étudiants sont formés à la médecine» (die Studentinnen und Studenten werden in Medizin ausgebildet). In all diesen Fällen zeichnet sich ab, was die Motivation für Pascal Gygax’ Arbeiten ausmacht: «Diese androzentrische Sprache, die den Mann in den Mittelpunkt oder über alles andere stellt, prägt unsere Sicht auf die Gesellschaft.» Das hat vielfältige Folgen.
«Diese androzentrische Sprache, die den Mann in den Mittelpunkt oder über alles andere stellt, prägt unsere Sicht auf die Gesellschaft.»
Erstens führt dieser Sprachgebrauch dazu, dass ein ganzer Teil der Gesellschaft unsichtbar wird: nicht nur Frauen, sondern alle Personen, die sich nicht mit dem Wort Mann identifizieren. Zweitens, so der Forscher, hat die androzentrische Sprache vor allem grossen Einfluss darauf, wie Kinder sich ihre zukünftigen Berufswahlmöglichkeiten vorstellen. Dies gilt umso mehr, als ein weiteres, ebenso schwerwiegendes Problem hinzukommt, nämlich das der Geschlechterstereotypen. Einige Berufe werden von vornherein eher mit Frauen, andere eher mit Männern in Verbindung gebracht. Beispiele sind Krankenschwester für Frauen und Chirurg für Männer. Liest das Gehirn «Chirurgin», reagiert es schlagartig und verbraucht mehr Energie, denn unsere mentale Vorstellung von diesem Beruf ist eher männlich geprägt. «Die Vorstellungen, die sich junge Menschen von Berufen machen, werden durch diese Geschlechterstereotypen und das grammatikalische Maskulinum verzerrt», hält Pascal Gygax in seinem Buch fest. Für die französische Sprache war dies jedoch nicht immer so.
Eine Idee kann nicht ohne Worte existieren, die sie beschreiben
Im Laufe ihrer Geschichte hat die – einst gleichberechtigt formulierte – französische Sprache mehrere Wellen der Maskulinisierung erlebt. Bis zum 17. Jahrhundert galt beispielsweise die Regel, dass sich das Geschlecht eines Adjektivs nach dem unmittelbar benachbarten Substantiv richten sollte. Ein Beispiel: «ce vase et cette tasse sont cassées» (diese Vase und diese Tasse sind zerbrochen). Auch wenn diese Regel heute formal nicht falsch ist, wird sie im Sprachgebrauch selten angewendet. Damals «brachen immer mehr Frauen aus ihrer Geschlechterrolle aus. Daran störten sich bestimmte Grammatiker und Schriftsteller. Deshalb beschloss die Académie française, weibliche Berufsbezeichnungen wie Autorin, Ärztin, Bürgermeisterin, Philosophin oder Dichterin aus ihren ersten Wörterbüchern zu entfernen», erklärt Pascal Gygax6. «Wenn das Wort ‹Autorin› verschwindet, ist das kein Zufall. Damit wollte man den Frauen sagen, dass diese Berufe nichts für sie sind. Die Bäckerin ist hingegen nie verschwunden.» Dieser Beruf galt als weniger prestigeträchtig. Pascal Gygax zieht zur Erklärung dieses Phänomens der Ächtung bestimmter Wörter auch George Orwells Roman 1984 heran: «In Neusprech – der Sprache, die der Autor für die von ihm beschriebene Gesellschaft geschaffen hat – ist das Wort ‹Freiheit› verboten, damit die Bevölkerung gar nicht erst daran denken kann. Mit anderen Worten: Orwell verankert das Konzept, dass eine Idee nicht existieren kann, wenn die zu ihrer Formulierung erforderlichen Wörter nicht existieren.»
Gestützt auf diese historischen und soziologischen Beobachtungen erweitert Pascal Gygax sein Forschungsgebiet stetig. So untersucht er weitere Sprachen, arbeitet mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in zahlreichen Ländern zusammen und testet verschiedene mehr oder weniger grammatikalisch-geschlechtliche Sprachmodelle. Die Beobachtung, dass unsere heutige Gesellschaft im 21. Jahrhundert immer noch sehr patriarchalisch geprägt ist, bringt Pascal Gygax schliesslich zu folgendem Schluss: «Es geht jetzt darum, die Gesellschaft zu demaskulinisieren!» Eines der Instrumente, dessen Nutzung er in diesem Zusammenhang befürwortet, ist die inklusive (oder geschlechtergerechte) Sprache, die derzeit zu heftigen Debatten führt.
Zunächst einmal erläutert der Wissenschaftler den Ursprung des Begriffs: «Er tauchte zum ersten Mal Ende der 1970er Jahre in der protestantischen Theologie in Nordamerika auf. Die Idee dahinter war, zu zeigen, dass die Bibel sich an alle richtet, nicht nur an Männer.» Ein Vorschlag in diesem Zusammenhang war beispielsweise, bestimmte biblische Metaphern zu demaskulinisieren und von Jesus als «Kind Gottes» statt als «Sohn Gottes» zu sprechen. Sogar das Geschlecht Gottes wurde infrage gestellt, denn es musste ja nicht unbedingt männlich sein. «Heute besteht das Ziel der inklusiven Sprache vor allem darin, ein besseres Gleichgewicht zwischen der Repräsentation der Geschlechter im Sprachgebrauch zu finden», fasst Pascal Gygax zusammen. «Die inklusive Sprache geht dabei weit über die verschiedenen Neographien hinaus, die immer wieder für Gesprächsstoff sorgen und auf die sie allzu oft reduziert wird.» Diese Schreibweisen haben sich bisweilen noch nicht gängig durchgesetzt. Dazu zählen im Deutschen beispielsweise der Genderstern (Student*innen) und der Doppelpunkt (Student:innen) als Sichtbarmachung für Studierende jeglichen Geschlechts oder die Neutralisierung von Geschlecht durch nominalisierte Partizipien im Plural (z.B. Studierende).
Laut Pascal Gygax lässt sich die Animosität gegenüber der inklusiven Sprache grösstenteils durch die fehlende Kenntnis des wissenschaftlichen Gegenstands erklären. «Führt man aus, dass ein Satz mit einer Doppelnennung, also beispielsweise ‹die Sängerinnen und Sänger sind ausgezeichnet›, ebenfalls auf dem Konzept einer inklusiven Sprache beruht, sind die Menschen oft erstaunt. Diese Art des Schreibens wird immer öfter verwendet und ist nicht unbedingt umstritten.» Die Ablehnung gegenüber den Neographien, die oft als schwer lesbar empfunden werden, ist jedoch auch auf tiefere Beweggründe zurückzuführen: «Zunächst gibt es Vorbehalte aufgrund eines gewissen, zuweilen tief verwurzelten Konservatismus. Dieser kann etwa dazu führen, dass die Zahl der Frauen in Führungspositionen als höher eingeschätzt wird, als dies in der Realität der Fall ist, und zwar so stark, dass man sogar versucht, sie zu verringern. Dieser Konservatismus birgt auch die Ideologie der ‹gerechten Welt›: Im Grossen und Ganzen ist doch alles gut so, wie es ist, und Ungleichheiten stellen gar kein Problem dar. Schliesslich lässt sich die mangelnde Akzeptanz der inklusiven Sprache auch durch Sexismus und Transphobie erklären.»
«Man hat mich als ultra-woke bezeichnet und mir vorgeworfen, Taliban-Methoden zu verwenden.»
Inmitten dieser hitzigen Debatte hat sich Pascal Gygax auf die Fahne geschrieben, seine Erkenntnisse einem breiten Publikum bekannt zu machen. Dabei geht es ihm vor allem darum, sein Forschungsgebiet für die Allgemeinheit zugänglich zu machen. Gemeinsam mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) kreiert er pädagogische Videos7, er nimmt an Podiumsdiskussionen teil, tritt in Radio- und Fernsehsendungen auf und schreibt Medienbeiträge wie etwa den «Lettre [d’excuses] à un enfant qui va naître en Suisse» ([Entschuldigungs-]Brief an ein Kind, das in der Schweiz geboren wird) im Jahr 20208. Mittlerweile eilt Pascal Gygax der Ruf eines Verfechters der inklusiven Sprache voraus. «Man hat mich als ultra-woke bezeichnet und mir vorgeworfen, Taliban-Methoden zu verwenden. Ich sollte vor einem Gemeinderat im Kanton Waadt einen Vortrag über inklusive Sprache halten. Als ich das Podium betrat, standen einige der gewählten Vertreterinnen und Vertreter, hauptsächlich aus dem rechten Lager, auf und verliessen den Saal. Eine dieser Personen erklärte mir, dass sie nichts gegen mich habe, aber schon alles über dieses Thema wisse…» Wenn die Kontroverse politische Konnotationen annimmt – «und Sprache ist immer politisch, denn sie ist ein Prestigeobjekt, das die Eliten in übertriebener Weise verteidigen», schiebt er ein –, dann greift sie natürlich auch in den Bereich der Schulbildung über: «Ich sollte einen Vortrag an einer Schule halten. Doch die Schulleitung erhielt einen Brief von Eltern, die sich darüber empörten, dass die Schulkinder ein Plädoyer für ‹Gendertheorie› anhören sollten. Mein Vortrag wurde schliesslich abgesagt. Dabei war er vollkommen sachlich und befasste sich vor allem mit Geschlechterstereotypen und den Berufswünschen von Jugendlichen.»
Inklusive Sprache als Schlüssel zu mehr Gleichberechtigung
Pascal Gygax’ Einsatz für eine geschlechtergerechte Gesellschaft ist unermüdlich und pausenlos: «Meine Tochter im Teenageralter fragt mich manchmal, ob wir nicht mal einen Sonntag in Ruhe zu Hause verbringen können, ohne dass das Thema erwähnt wird», erklärt er lachend. Der Forscher wehrt sich jedoch gegen den Vorwurf, einem Idealismus oder gar einer Utopie nachzuhängen und einen sinnlosen Kampf zu führen: «Natürlich stimmt es, dass inklusive Sprachformen – wie einige Kritikerinnen und Kritiker sagen – ‹die Strassen nicht sicherer machen›. Wenn statt ‹Autor› die weibliche Form ‹Autorin› verwendet wird, um eine Frau zu bezeichnen, hält das keinen gewalttätigen Ehemann davon ab, zuzuschlagen. Genauso wenig hält die Verurteilung rassistischer Äusserungen Menschen davon ab, Bananen auf Fussballfelder zu werfen. Doch wenn inklusive Sprache dazu beitragen kann, das Selbstvertrauen von Mädchen und die Wahrnehmung ihres Erfolgs in bestimmten Berufsfeldern zu stärken, in denen Gleichberechtigung nicht respektiert wird, dann muss sie vorbehaltlos unterstützt werden», schreibt Pascal Gygax9. Er betont auch, dass seine Arbeit stets auf den Prinzipien guter Forschung basiert: «Wir führen genormte Studien durch und arbeiten mit soliden Daten. Unser Ziel ist es, fundierte Informationen über die Folgen der Maskulinisierung der Sprache zu liefern – Ergebnisse, die wir in Form von Wissen an die Gesellschaft zurückgeben, als Dank für die finanzielle Unterstützung, die sie uns gewährt.» Damit deutet er an, dass diese Art von empirischer Arbeit nicht immer Wertschätzung erfuhr. Pascal Gygax zufolge werden mit der Finanzierung manchmal eher «im Voraus geschriebene» Ergebnisse unterstützt als Laborprotokolle, die im Laufe der Forschung angepasst werden müssen. Mit dem Preisgeld für den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist will sich Pascal Gygax, in seiner Freizeit leidenschaftlicher Langstreckenwanderer – «aber dennoch behaglich geblieben» –, endlich einen lang gehegten Wunsch erfüllen und ein akademisches Institut gründen, das sich der Erforschung dieser Themen widmet. «Dort soll die gleiche Arbeits- und Studienatmosphäre herrschen, wie ich sie als Doktorand in England erlebt habe, wohlwollend und akademisch weniger hierarchisch als in der Schweiz.»
Denn die Gesellschaft steht nicht still. Im Gegenteil – die jüngsten Debatten über non-binäre Geschlechtsidentitäten haben Pascal Gygax veranlasst, sich vorzustellen, wie es weitergehen mag: «In der französischen Sprache tauchen jetzt Wörter wie ‹lecteurice› auf, um non-binäre Personen einzuschliessen», sagt er. Dabei bezieht er sich auf den weit verbreiteten Podcast Les Couilles sur la table der Journalistin Victoire Tuaillon, der jedes Mal mit der Begrüssung «Cher·es auditeurices» beginnt. «Für uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind solche Wörter spannende Studienobjekte.» Er gerät ins Schwärmen und zögert auch nicht, die «Unsterblichen» in der Académie française zu kritisieren, welche die inklusive Sprache 2017 als «tödliche Gefahr für die Sprache»10 bezeichneten: «Die französische Sprache ist wie auch andere Sprachen nicht starr, sie muss atmen. Sie entwickelt sich. Sie lebt.» Der Wissenschaftler ist überzeugt: «[Von der Pluralität, also der Nicht-Binarität der Geschlechter] zu sprechen oder zu schreiben, bedeutet, dass wir sie existieren lassen und sichtbar machen.» Zumindest. «Danach muss sich die Gesellschaft als Ganzes, ja müssen sich die Menschen mit dem Thema auseinandersetzen.» Damit auch sie sich weiterentwickeln…
1 «Le cerveau pense-t-il au masculin?», P. Gygax, U. Gabriel, S. Zufferey, Editions Le Robert (2021)
2 Gygax, P., Sato, S., Oetl, A. & Gabriel, U. (2021). The masculine form and its multiple interpretations: a challenge for our cognitive system. Language Sciences, 83.
3 Bosson, M., Maggiori, C., Gygax, P., & Gay, C. (2012). Smoking and adolescence: Exploring tobacco consumption and related attitudes in three different age groups in Switzerland. Journal of Youth Studies, 15, 225-240.
4 Jäggi, T., Sato, S., Gillioz, C., & Gygax, P. M. (2022). Is the future near or far depending on the verb tense markers used? An experimental investigation into the effects of the grammaticalization of the future. PLOS ONE, 17, e0262778.
5 Gygax, P., Ute, G., Sarrasin, O., Garnham, A., Oakhill, J., Generically intended, but specifically interpreted: When beauticians, musicians, and mechanics are all men, Language and Cognitive Processes, vol. 23, 2003.
6 Genre, les mots pour le dire, S. Woeldgen, in Heidi.news, 08.12.2021
7 Hier zu sehen: www.epfl.ch/about/equality/fr/langage-inclusif/outils/capsules
8 «Lettre à un enfant qui va naître en Suisse», P. Gygax und P. Wagner-Egger, Le Temps, 09.09.2020
9 «Elevons le débat sur le langage inclusif!», P. Gygax, P. Wagner-Egger, in Le Temps, 18.06.2019
10 Déclaration de l’Académie français sur l’écriture dite «inclusive», auf www.academie-française.fr, 26.10.2017